Wissen und Ornament
Umgeben von den zuständigen Disziplinen spielt die Kunst eine seltsame Sonderrolle in der spezialisierten Gesellschaft: Als Dilettantin erklärt sie sich ohne Approbation auf eigene Faust die Welt. Ohne angemessene Ausbildung und personellen Apparat kann sie die Fachleute nicht einholen und muss doch über die Welt des Expertenwissens sprechen, jedenfalls dann, wenn sie sich mit der sogenannten exakten Wissenschaft, den modernen Technologien oder der aktuellen Ökonomie befasst.
Die Kunst ist deshalb seit einiger Zeit flüchtig, wenn es um die Analyse ihrer Umwelt geht. Sie stutzt die Realitäten zu schlichten Bildern zurecht. So entstehen ästhetische Tadellosigkeiten, die sich in den aseptischen Reservaten der Museen und Galerien um den Beifall der touristischen Endkonsumenten bewerben. Der Verdacht ist jedoch nicht mehr auszuräumen, dass die Bildermedien und Installationen der Bildenden Kunst nur über die Außenseite der Dinge reden, oder sich jedenfalls mit äußerlichen Mitteln vergebens darum bemühen, wenigstens den Kenntnisstand einer populärwissenschaftlichen Zeitungsbeilage zu erreichen. Kunst, die von Wissenschaft redet, erliegt dem Standortnachteil ihrer Exterritorialität.
Den gegenwärtig größten Widerstand gegen diese Diskrepanz zwischen der Spezialisierung einer arbeitsteiligen Gesellschaft und dem Universalismus der symbolsüchtigen Kunst leistet ausgerechnet eine spezialisierte Randdisziplin der Künste. Es ist die Medienkunst, die sich Anfang der neunziger Jahre zunächst als Netzkunst mit den Spezialisten der Informationstechnologie auf Augenhöhe begab, um dann als Softwarekunst mit den Codes und Oberflächen der Computerprogramme zu experimentieren, die längst zu den wichtigsten Werkzeugen unserer Informationsgesellschaft geworden sind. Während sich rasch neue Genres dieser technisch gut informierten Kunstdisziplin entwickelten und beispielsweise einige Künstler das popkulturell einflussreiche Medium der Computerspiele aufarbeiten, fiel der Medienkunst bald auch die Hauptverantwortung für die Annäherung an die Wissenschaft zu. Wo die traditionellen künstlerischen Genres auf Ironie und Distanznahme setzten, blieb es der Medienkunst überlassen, Wissen aufzubereiten, Informationen abfragbar dem Publikum zur Verfügung zu stellen und Wissenstechnologien als ästhetisches Material in Kunstwerke zu integrieren. Die Medienkunst riskierte wagemutiger als ihre konventionellen Nachbardisziplinen ihr Scheitern an der Komplexität. Vor allem die Interfaces der computerbasierten Künste schienen wie eine Verführung zu wirken, Informationen aufzuschichten und sinnfällig zu organisieren. Während die Informationsorganisation sich unter dem Etikett „Computational Design“ zu einem ernstzunehmenden Zweig der visuellen Kommunikation entwickelte, versuchte die Medienkunst umgekehrt der Wissensorganisation einen eigenen, autonomen Spielraum zu erschließen. „Schöner Wissen“, wie eine Arbeitsgemeinschaft von Programmierern und Designern ihr Projekt der Datenorganisation in Netzwerken nannte, hätte in abgewandelter Form auch das Schlagwort der medienkünstlerischen Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Technik heißen können. „Autonomer Wissen“ – doch wäre das möglich?
Wenn eine wissenschaftlichen Standards folgende empirische Recherche nach allen gebräuchlichen Überzeugungen noch keine Kunst war, konnte dann die Aufarbeitung einer empirischen Materialsammlung Kunst werden, ohne das Wissen bis zur Unkenntlichkeit in einer symbolischen Kunstform aufgehen zu lassen? Wenn etwa eine soziologische Recherche über Rollenveränderungen des Menschen in der kreativen Arbeit mit Computern ein möglicher Materialvorrat für künstlerische Aussagen sein sollte, stellte sich nicht nur die Frage, wie viel Spezialwissen für ein breites Publikum noch kunstverträglich ist. Zum Testfall für die Kunst geriet eher das Problem, wie viel Recherche noch unverwandelt erkennbar bleiben müsste, um die Entfremdung zwischen den unverfälschten Fakten und dem Autonomieanspruch der Kunst zu überbrücken.
So kommen Hörner/Antlfinger in ihrer Arbeit Two Lives/Eine Debatte 1999 ganz notwendig zu einer hybriden Antwort auf dieses Problem. Sie machen ihre Recherche über das Selbstverständnis professioneller Computeranwender aus Kunst und Wissenschaft nicht nur im Ausstellungskatalog zugänglich und schaffen so einen alternativen Zugang zu den ermittelten Fakten außerhalb des Ausstellungsraums. Sie verlegen die künstlerische Organisation der angesammelten Wissens auch in ein netzartig verzweigtes Interface, das die Suche nach den Antworten der befragten Computernutzer zu einer reflexiven Computernutzungserfahrung macht. Nachdem bereits Künstler, akademische Forscher und Software-Entwickler als gemeinsame Population einer rollen- und persönlichkeitsverändernden Rechnerwelt erkennbar geworden waren, geriet dem Publikum seine Lektüre zur Grenzerfahrung mit dieser technischen Welt. Präsentiert wurden diese Interfaces indes nicht in einer Wunderkammer oszillierender Projektionen und romantischer Pixelgemälde, sondern in einem ernüchternden Leseraum, der mit seiner reduzierten Anlage aus Tischen, Bänken und einigen wenigen abweichenden Inventargegenständen wie einem Bücherregal und einem Aquarium zunächst eher einem Seminarraum glich. Erst im Durchgang durch die Computernutzung, die Bildschirm-Lektüre und die Auseinandersetzung mit den online zugänglich gemachten Aussagen, musste die Präsentation selbst wie das installative Spiegelbild des Kunstbetrachters als User erscheinen, der so die prekäre Symbiose von Mensch und Maschine in einem reflexiven Szenenbild als Selbstversuch erfuhr.
Das Interface, zeigen Hörner/Antlfinger, gerät zu einer potentiellen Skulptur, wenn man es nicht bei der Vermittlung von Wissen belassen will, sondern jeden Schritt auf dem Weg von der ästhetischen Betrachtung zum gespeicherten Faktum als ästhetische Passage begreift. Dabei geht es nicht nur darum, dass der Computer als Vehikel der künstlerischer Erfahrung und Präsentation das baugleiche Werkzeug der Industrie, der Wissenschaft und der Verwaltung ist, sondern auch darum, dass der Computer die Kunst zur Nutzung vorgegebener Softwarekonventionen, Interfaces und Wissensorganisationen verführt, sobald sie ihn nutzt. Keineswegs ist die Kunst so frei, den Computer neu zu erfinden. Sie ist, das ist eine meist unterschlagene Pointe der Computerkunst, sobald sie erst mit dem Erfinden und Entwickeln beginnt, immer schon Userin der Technologie.
Hörner/Antlfinger wissen, dass sie diesem Status des Endverbrauchers fremder Standards als Künstler nicht entkommen können. Ihre Kunst handelt deshalb nicht nur von der Organisation des Wissens, sondern vom Eigenleben dieser Organisation. In Märchenmetaphern, populären Science-Fiction-Szenarien, germanischen Mythen und Parodien kommerzieller Computeroberflächen entstehen Räume und Landschaften, die weder bloße Allegorien recherchierter Erkenntnisse noch pädagogische Präsentationen gesicherter Wissensbestände sind. In diesen Arbeiten dienen die Architekturen des Wissens einerseits zwar als Verknüpfung der Kunst mit einer nach anderen als ästhetischen Kriterien organisierten Außenwelt. Sie sind aber zugleich zweckfreie Form. Jedes Interface, jedes installative Gestell stellt sich der Betrachtung im gleichen Maß in den Weg, wie es als Erkenntnisbehelf dient, bis als vorläufiges Arbeitsergebnis eine Balance zwischen dem Interface als Behelfsmittel und dem Interface als emanzipierter Kunstform entsteht.
Diese kalkulierte Balance ist ein Paradox, und sie ist sehr fragil. Im gleichen Maß, in dem die Kunst sich zur technisch vermittelten Außenwelt durchlässig macht, fördert sie auch deren ästhetische Logik zu Tage. Konventionen der Interfaceprogrammierung, farbliche Reduktionen simulierter Landschaften, Bewegungsroutinen in der 3D-Navigation verschmelzen mit der ästhetischen Aussage der Kunst, die all diese äußeren Vorgaben reflektiert, zu einer unentwirrbaren Einheit. Wenn die Baukastensysteme der Programme und die Gepflogenheiten der Skriptsprachen ihre standardisierten Konventionen mitbringen, kann die Kunst sich gegen solche Elemente der industriellem Bildsprache nicht wehren. Programme habe ihren eigenen Kitsch, und seine Molekülstrukturen dringen auch in seine künstlerische Weiterverarbeitung ein. Die Kunst könnte mehr, wenn die Programme alles vermöchten, was die Künstler zu denken imstande sind, doch technisierte Kunst zwingt kleine Teams von Produzenten zu einer reduktionistischen Arbeitsökonomie. Auch dort, wo die Kunst ihre Autonomie entwickelt, lebt sie also in mühsam eingerichteten Reservaten, wo sie in überschaubaren Feldversuchen das unbeherrschbare Territorium von Wissenschaft und Informationstechnologie kontrollierbar nachmodelliert.
Kunst, die in Echtzeitanimationen die zielgerichteten Raumwahrnehmungen der militärischen und kommerziellen 3D-Simulationen auf den Kopf stellt; die wie in Infinite Land vor den Augen des Betrachters meditative Raben als Flugobjekte aufsteigen lässt, um eine irritierende Gleitbewegung an die Stelle der rationalen Navigationslogik zu setzen; die dem Publikum ein Navigationsinterface anbietet, mit dem sich in Wahrheit kaum navigieren lässt – diese Kunst setzt sich dem Risiko aus, mit den technischen Erscheinungen verwechselt zu werden, die sie in Wirklichkeit in einem ästhetischen Laborversuch auf ihre skulpturale Tauglichkeit erprobt. Sie muss das Publikum erst eigens darauf stoßen, dass sich die tragenden Bestandteile ihrer Konstruktionen von ihren wissensverweisenden Funktionen lösen und zu autonomen Formen auf Probe werden. Erst wenn das Informationsinteresse und der Mitwirkungsehrgeiz des interagierenden Betrachters in eine ästhetische Wahrnehmung umschlägt, wird die Form nicht von ihrem Trägermedium absorbiert. Wie in den performativen Künsten ist diese Medienkunst auf das Beharrungsvermögen der Rezipienten angewiesen, die erst mit der Dauer ihrer Betrachtung mehr als den Informationsgehalt der technischen Oberflächen sehen, denen sie sich gegenüber sehen.
Solche Lebensrisiken interaktiver Autonomieexperimente machen das Versuchsdesign Hörner und Antlfingers nicht weniger interessant. Schon immer verleibt Kunst sich ihre Materialien ein. Von der mimetischen Nachbildung landschaftlicher Räume über die Nacherzählung hinterlassener Mythen oder die Anverwandlung dokumentarischer Recherchen versucht die Kunst sich an der Umnutzung vorgefundener Bestandteile der Außenwelt. Die Reorganisation recherchierten Wissens in Computersimulationen erlaubt jedoch die Umrechnung fremder Informationsbestände in ästhetische Formen, die autonom sein können, ohne ihre informative Authentizität zu verlieren. Information kann sich hier auf ein Zweitleben als Ornament einlassen und bleibt dennoch bis zu ihren Quellen rückverfolgbar. Medientheorie kann in metaphorischen Visualisierungen verkleidet werden und verliert dennoch ihren Kontext nicht. Künstliche Intelligenz kann in szenischen Dialogen aufgeführt werden und bleibt dennoch ein Lehrdialog.
Dieses Changieren zwischen Faktum und Form, Wissen und Ornament, rationalem Datenbestand und räumlicher Meditation ist nicht nur eine stillschweigende Kritik an einer ins symbolische zurückgezogenen Kunst. Es ist auch ein experimentelles Wagnis auf dem Weg, der Kunst die wichtigen Territorien der Wissensgesellschaft auf eine direkte Weise zu erschließen und sie dorthin zurückzubringen, wovon sie sich im Verlauf der Spezialisierung der Disziplinen abgesondert hat.
Gerrit Gohlke