Modell Juvenile
In meiner Erinnerung war der Zweckbau hoch wie ein Wolkenkratzer, mindestens aber höher als der Frankfurter Dom. Es sah aus, als habe man auf den Turm noch einen großen Würfel gesetzt. Diese obersten Stockwerke wirkten wie ein eigenes Gebäude, der Rest nur wie ein Sockel. Den Fenstern, Balkonen, sogar den Mauerflächen hatte man ein Gitter vorgeblendet, vielleicht auch kräftigen Maschendraht. Der Aufbau war mit Metallgeflecht überzogen, wie Innenstadt-Skulpturen, die vor Taubenkot geschützt werden. Auf Nachfrage gaben meine erwachsenen Begleiter aber stets zu: Das Gebäude sei ein Hospital, ganz oben die Kinderklinik, das Gitter sei ”gegen Selbstmörder”. Die Phantasie hat dann alles vermantscht – diese reizvollen Stichworte – Krankheit, Tot, Gewalt, Gefängnis. Ein mordender Einbrecher rüttelt vor Nachtwolken an Metallstangen, elternlose Kinder schreien in weißversiegelten Räumen.
Aber ehe man ein Kind unterrichtet, müßte man dessen Fähigkeiten kennen. Man errät sie durch die Schädellehre. Sie (Bouvard und Pecuchet) vertieften sich in das Studium und prüften an sich selbst die gestellten Behauptungen. (…) Als sich der Arzt in den Sessel setzte, sah er im Spiegel die beiden Phrenologen, die ihre Finger auf den Kinderköpfen spazieren führten. ”Treiben Sie jetzt auch noch diesen Blödsinn?” sagte er. ”Wieso Blödsinn?” Vaucorbeil lachte verächtlich und versicherte, es gäbe im Gehirn nicht mehrere Organe. Der eine Mensch verdaut ein Nahrungsmittel das ein anderer nicht verdaut. Muß es deshalb so viele Mägen geben als es Geschmäcker gibt? Aber eine Arbeit läßt von einer anderen erholen, eine geistige Anstrengung erfordert durchaus nicht die Anspannung aller Fähigkeiten zugleich, jede hat also einen besonderen Sitz. ”Die Anatomen haben ihn aber nicht gefunden” sagte Vaucorbeil. ”Sie haben eben schlecht seziert”, erwiderte Pecuchet. ”Wie?” ”Nun ja, sie machen ihre Schnitte und achten dabei nicht auf die Verbindung der Teile” – eine Redensart aus einem Buch, an die er sich gerade erinnerte. ”Das ist albernes Gerede!” rief der Arzt. ”Der Schädel formt sich nicht nach dem Gehirn, das äußere nach dem Inneren!” (Gustave Flaubert ”Bouvard und Pecuchet”)
(2001 – Odyssee, Kubrick, erste Minuten:) Der große Knochen fliegt hoch in die Luft. Das kräftige abgenagte Ding war für die Urmenschen begehrtes Streitobjekt, dann erste Waffe. Es wirbelt immer langsamer vor dem blauen Wüstenhimmel. Ein Schnitt und durch die Luft gleitet die andere große Form -das riesenhafte Raumschiff, schwerelos, gleichmäßig, bedrohlich. Der Knochen war Körperteil wie im Flugobjekt das Haus steckt.
Das große Gebäude, von Ute Hörner und Mathias Antlfinger entworfen, gleicht beidem: Es ist bleiches Gerippe, Raumschiff, Wohnobjekt oder vielleicht nur ein Experiment des Modellbaus am Nylonfaden. So schwebt der helle Baukörper durch die Nacht – aus den Etagen ragen kleine würfelige Höcker. Das sind Einzelzellen, kleine futuristische Räume, gereiht und geschichtet zu geordneten Agglomerationen, mehr Bienenwabe als Ameisenhaufen. Staunend vor der großen Projektionsfläche nimmt man den Voführ-Raum in seiner wohligen Heimeligkeit als Entré zu der kühlen computergenerierten Architektur. Die kleine Kammer im Museumsflur ist angenehm dimensioniert, die Künstler haben die Wände tiefgrau gestrichen und die Fenster verdunkelt, der weiche Teppichboden nimmt die düstere Farbigkeit der Projektion auf.
Im schwebenden Rundlauf gleitet der Blick durch das Innere des Schiffes, eine symptomatische Etage. Ein futuristischer Kreuzgang. Die Zellen reihen sich matt beleuchtet entlang der dunklen Flure, illuminiert von bleichem Licht und matt blinkender Leuchtschrift, die sich wie eine radikal modernisierte Stuckleiste die Wand entlang zieht und über Türrahmen und Schwellen. Ein flimmernder gleichmäßig strömender Wortlauf, fast unkenntlich die wieder und wieder wiederholte Liedzeile ”in the jingle jangle morning i’ll come followin”.
Wie vergessene Puppen liegen sie da: Knaben, Mädchen, manche noch Kind, andere jugendlich. Schlafend vor den Pritschen, ermattet auf den Platten der Pulte zusammengesunken, hingestreckt ein jedes in seiner Zelle. Sie sind nicht tot und auch nicht krank. Vielleicht sind sie träumend aus den Betten gefallen oder verzaubert. Oder einer dieser unaussprechlichen Vorgänge der Science-Fiction-Welt ist ihnen wiederfahren: Eine wissenschaftlich-erklärbare Transformation, irgendein noch fast undenkbares Experiment. Auch erinnert die Reise durch Raumsimulationen an Computerspiele aber wo ist der Schaltknüppel, wo der anleitende Kurzfilm?
In der Mitte des Raumes, vor der Projektion, steht ein Tisch darauf ein Gerät, zwischen Bestrahlungskasten und fossilem Videorecorder. Aus seinem Einschubschlitz fällt Licht. Ich stecke meine Hand hinein, um das Innere des Gerätes zu erforschen und entdecke stattdessen verschiedene Orte in der Simulation – die Kamera lässt sich lenken. Kaum ist die Hand wieder heraus, geht es weiter.
Der Autopilot verharrt nun vor einem glattmodellierten Räumchen, jedes Zimmer hat den gleichen Grundriß: Ein eigenes Bad gehört zur Ausstattung wie das ausklappbare Bett, der Sessel von altmodischer aber geglätteter Form, der Schreibtisch mit Computer, links davon ein Fenster, Aussicht zum Innenhof. Man hat jedem Kind ein Bild zugeteilt. Vom gedämpften Dunkel und den gegossen glatten Interieurs heben sich die auf einheitliche Rahmengröße gebrachten Motive der Kunstgeschichte ab, wie Antiquitäten vor der nichtbrennbaren Modul-Architektur einer Flughafenlounge: Tochter mit Puppe von Picasso, ein Knabe mit einem Medizinball von Karl Hofer, der spanische Infant in steifem, bodenlangen Kleidchen, das Steckenpferd in der Hand. Diese Bilder sind von einer eigen getönten Farbigkeit und konstruierten Perspektive. Ute Hörner und Mathias Antlfinger verwenden die Motive wie die Frage- und Antwortzitate ihrer Arbeit ”Monokroms” 1997 – die Textfetzen waren an die Felder eines Spielbrettes gekoppelt, man konnte sie aufrufen und ansteuern wie hier die künstlerischen Idealbilder von Kindheit. Der Blick des Malers auf sein Objekt ist nun ein Motiv im doppelten Sinn: Auch Pädagogik, Medizin oder Architektur entwerfen mit der Lehre die idealen Objekte mit, denen sie dann ihre fürsorgliche Aufmerksamkeit gelten soll.
Auch sind Anleitungen für den Umgang mit Kindern, Kranken, Häftlingen häufig lediglich eine Aufzählung von Materialien: Kleidung, Behausung, Ausstattung, Medikamentierung. Schüler, Sieche sind den Planungen nicht nur deshalb wehrlos ausgeliefert, weil sie jung oder schwach sind. In der Geschichte bleiben sie stumm, weil sie nicht schreiben. Jede Recherche klammert an den überlieferten Wäschelisten, Rechnungen, Krankenakten, Stundenplänen, Briefwechseln, Befunden. Das Eigentliche verbirgt sich nur selten in diesen Relikten. Wer reformiert, muß aber in der gleichen Sprache auf diese Vorgaben antworten: Das Spielzeugprogramm abschaffen, die Heilpflanzen durch andere ersetzen, die Zimmer so oder so anordnen, Lehrbücher verbieten, die Richtlinien für den Schulunterricht anpassen. Andere Farben, andere Werkstoffe, Diät, ein erweitertes Gymnastikprogramm, mehr Gesang, teure Medizin oder doch Beten. Das Schema zu verlassen ist schwieriger, als es zu endlos zu modifizieren. Die Architektur eines Kinderheims erzieht genauso wenig, wie die funktionale Gestaltung eines Krankenbettes heilt – sie bieten dem Pflegen, Anleiten, Zusammenleben nur einen besseren oder schlechteren Rahmen. Die Form ist kein Ausweg – nur ein weiteres Ornament, das man zur Rettung anruft – wie das beschwörende Zeichen an der Höhlenwand oder die Eiweißstruktur eines heilenden Genmoleküls.
Dieses Sofa kennen wir: Es ist die orientalisch gemusterte Ottomane, an deren Kopfende Sigmund Freud Platz nahm. Wann ist das Behandlungszimmer von Dr. Freud denn an Bord gekommen: Alles ist da. Die Bilder, die Schränke, die Regale voller Nippes, der Kamin. Die Konstruktion hat das berühmte Foto aber nicht einfach angedockt. Mobiliar und Szenerie wirken genauso steif und verkehrt, wie die herumliegenden Kinder – Modell Juvenile – ihre Herkunft aus einem Computerprogramm nicht leugnen können. Die Künstler haben alles neu aus Pixeln erschaffen. Eine perspektivisch überzeugende Fahrt durch das Allerheiligste der Seelenkunde ist möglich. Der Sessel wurde gleich vervielfältigt. Nun steht er in jedem Raum – wie die standardisierte Einrichtung eines Themenpark-Hotels. Was ist noch einmal genau das Thema?
”Noch immer,” rief der Fürst im höchsten Unmut, ”noch immer verstehe ich Sie nicht, Unverständlicher!“ ”Ich meine,” sprach der Doktor, ”ich meine, Durchlauchtiger, daß das Physische sich bloß auf das rein vegetative Leben ohne Denkkraft, wie es in Pflanzen stattfindet, das Psychische aber auf die Denkkraft bezieht. Da diese nun im menschlichen Organism vorwaltet, so muß der Arzt immer bei der Denkkraft, bei dem Geist anfangen und den Leib nur als Vasallen des Geistes betrachten, der sich fügen muß, sobald der Gebieter es will.””Hoho!” rief der Fürst, ”Hoho, Leibarzt, lassen Sie das gut sein! Kurieren Sie meinen Leib, und lassen Sie meinen Geist ungeschoren, von dem habe ich noch niemals Inkommoditäten verspürt. Überhaupt, Leibarzt, Sie sind ein konfuser Mann.” (E.T.A. Hoffmann ”Klein Zaches”)
Heilende Blumen neigen ihre Köpfe dem Betrachter zu. Diese Ebene der Simulation ist mit der Szenerie so unverbunden, wie ein in der Wiese verträumter Nachmittag mit dem Alltag eines Internats. Das künstliche Mädchen durchquert stampfend die Hügellandschaft. Ihre Beine sind dickliche Säulen, das Körperchen eine kleine Tonne, die Haare eine unbewegliche Masse. Ziseliert gezeichnete Arzneikräuter zeigen ihr Antlitz, isoliert aufgereiht wie auf einer pharmazeutischen Schautafel. Sie sind bereit.
Catrin Lorch