Schwarmästhetik. Distributive Agency in der interspezies-Kollaboration CMUK

(Reine Text Version)

Papageien werden in der Regel vor allem für ihre Sprachbegabung, ihr buntes Gefieder und ihre hohe Intelligenz bewundert. All diese Aspekte sind für Ute Hörner und Mathias Antlfinger nebensächlich. Das Künstlerduo arbeitet mit den beiden Graupapageien Clara und Karl zusammen, um Interspezies-Kunstwerke zu schaffen. In der gemeinsamen Arbeit geht es also nicht wie in der ethologischen Beschäftigung mit Papageien darum, zu prüfen, wie groß der Wortschatz der Vögel ist, zu beweisen, dass sie die Fähigkeit haben, abstrakte Konzepte wie die Zahl Null zu verstehen oder zu zeigen, dass sie problemorientiert Werkzeuge herzustellen vermögen. Auch die äußere Erscheinung der Papageien ist nebensächlich, bei Graupapageien hält sich die Farbenpracht ohnehin in Grenzen. Clara und Karl werden für ganz andere Kapazitäten und Eigenschaften wertgeschätzt und als Partner in ästhetische Pro­zesse eingebunden – und die sind vielleicht noch faszinierender. Die beiden Graupapageien, mit denen sich Hörner/Antlfinger in einer jahrelangen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft befinden, bestechen durch ihr Expertentum als Bildhauer_innen und ihre soziale Kompetenz innerhalb eines künstlerischen Multispezieshaushalts.

Hörner/Antlfingers Kollaboration mit den Graupapageien bewegt sich nicht auf ausgetretenen Pfaden. So versuchen sie nicht etwa, die Vögel im Dienst von konzeptuellen Kunstwerken zum Sprechen zu bringen oder ihnen Denksportaufgaben zu stellen. Das tun bereits ausgiebig Vertreter_innen der Naturwissenschaften: Graupapageien sind längst zu einem Lieblingsobjekt der Ko­gnitions- und Sprachforschung geworden. Zuweilen als »gefiederte Affen« bezeichnet, werden die Vögel vor allem für ihre konvergent entwickelte und doch »menschenähnliche« Intelligenz sowie ihre Fähigkeit zur flexiblen Problemlösung bewundert und entsprechend vielfältig als Forschungsobjekte benutzt. Auch wenn sich mittlerweile im Umgang mit den Tieren ein Wandel abzeichnet, der u.a. von Irene Pepperberg und ihrer Arbeit mit dem wohl berühmtesten Graupapagei Alex angestoßen wurde, bleibt die Forschung zutiefst anthropozentrisch. Vergleichsobjekt und Maß aller Dinge ist immer der Mensch bzw. dessen Gehirnentwicklung und Fähigkeiten. Kaum eine Wissenschaftler_in fragt je danach, was die Vögel von den Tests haben, in denen sie gezwungenermaßen die Hauptrolle spielen. Das bedeutet nicht, dass nicht auch Graupapageien, die für Experimente herangezogen werden, ein gewisses Maß an Agency besitzen.

Auf die Rolle von Labortieren als »co-workers« hat prominent Donna Haraway hingewiesen, auch wenn sie zu Recht dafür kritisiert wurde, das Machtgefälle zwischen menschlichem Forscher und Versuchstier nicht deutlich genug herausgearbeitet zu haben.1 Selbstverständlich befinden sich Graupapageien in Laborsituationen unter strukturell gewaltförmigen Bedingungen. Sie können diese aber durchaus beeinflussen. So verändern sie durch ihre Eigenheiten sowohl die Test-Settings als auch die Methoden und schließlich die Handlungen und Einstellungen der Menschen, die mit ihnen arbeiten. Dennoch ist es traurig, dass die meisten Forscher_innen versäumen, ihren tierlichen »Mitarbeiter_innen« Fragen zu stellen, die diese auch wirklich interessieren. Vinciane Despret hat daran erinnert, dass oftmals Probleme durch Wissenschaftler_innen konstruiert und definiert werden, die nichts mit dem betreffenden Tier zu tun haben und durch die man daher auch nichts über dieses Tier lernen kann.2 Despret betont, wie wichtig es ist, den Tieren, mit denen man sich beschäftigt und über die man etwas erfahren will, mit Höflichkeit zu begegnen. Dabei definiert sie Höflichkeit als eine Aufmerksamkeit gegenüber den Interessen des Tieres. Nur mit Höflichkeit können Tieren sinnvolle Fragen gestellt werden, die auch für das Tier selbst Relevanz haben. Wenn man seine eigenen Fragen und damit einhergehenden Glaubenssätze von vornherein auf das Tier projiziert, wird es sich verweigern, das Interesse verlieren oder einfach nicht zeigen können oder wollen, wozu es wirklich fähig ist.3 Ute Hörner und Mathias Antlfinger finden einen Ausweg aus diesem Dilemma, indem sie Clara und Karl als gleichberechtige Partner_innen innerhalb eines Interspezies-Kunstwerks anerkennen und wertschätzen: Sie stellen Clara und Karl die richtigen Fragen und tun dies auf eine höfliche und respektvolle Art und Weise. Dabei versuchen sie in der Kollaboration nicht etwa, den Vögeln ihr menschliches Kunstverständnis zu oktroyieren oder Clara und Karl um des Werkes willen um vogeluntypische Handlungen zu bitten.

Verkorkste Papagei-Mensch-Beziehung?

Besonders deutlich wird die Handlungs- und Wirkmacht der Vögel in der Installation Subtraction One, die von Karl und Clara mit ihren Schnäbeln gestaltet und von Ute Hörner und Mathias Antlfinger mit ihren Händen arrangiert wurden. Hörner/Antlfinger deuten den angeborenen, für Vogelbesitzer meist lästigen Nagetrieb der Vögel um und sehen ihn nicht primär als zerstörerische, sondern als kreative Kraft. Dazu müssen sie zunächst beobachten, womit sich ihre Vögel gerne beschäftigen und dann Dinge bereitstellen, von denen sie annehmen, dass sie sie bevorzugt benagen.

Wild lebende Papageien nutzen ihre Schnäbel oft zum Bau von Baumhöhlen, zum Putzen des Gefieders, zum Graben und Bohren unter der Rinde von Bäumen, um Insekten zu fangen, oder zum Öffnen von hartschaligen Nüssen oder Früchten.4 Jedes 
Vogelhandbuch macht Vorschläge, wie man mit dem starken 
Nagetrieb von Papageien umgehen kann: So soll man den Vögeln den Zugang zu wertvollen Objekten schlicht verweigern, sie vertreiben oder ihnen Alternativen anbieten. Im Grunde verhalten sich Hörner/Antlfinger also nach Lehrbuch, wenn sie ihren beiden Graupapageien als eine Art Alternative ein großes Stück Kork anbieten. Tatsächlich bearbeiten die Vögel das Material begeistert, höhlen es weiter aus und zerteilen es im Laufe des Schaffensprozesses in mehrere Teile unterschiedlicher Größe. Mit besonderer Sorgfalt und Mühe widmen sie sich der Oberflächenbeschaffenheit und nagen und knabbern tiefe Furchen, große Löcher und glatte Flächen, die immer die sichtbare und identifizierbare Spur des Schnabels bewahren. Ginge man vom Ideal eines unversehrten Objekts aus, könnte man meinen, die Vögel hätten das ursprüngliche Werkstück »verkorkst«. Interessanterweise meint verkorksen nicht nur eine ungeschickte Ausführung, die dazu führt, dass das Ergebnis unbrauchbar wird, sondern wird im Süddeutschen auch verwendet, wenn man etwas Schlechtes gegessen hat. Doch verderben sich Clara und Karl bei ihrem virtuosen Tun weder den Magen noch scheitern sie als Bildhauer_innen. Vielmehr gestalten sie eine mehrteilige plastische Arbeit, auf deren formalästhetische Attraktivität Hörner/Antlfinger als die menschlichen Partner_innen der Gemeinschaftsarbeit durch Auswahl, Arrangement und Präsentationsweise aufmerksam machen.

Die Korkskulpturen weisen überaus reizvolle visuell und haptisch erfahrbare Strukturen auf und haben einen ganz eigenen plastischen Charme. Die Objekte haben keine praktische Funktion, beispielsweise als Nest, sondern legen schlicht Zeugnis von einer bemerkenswerten nichtmenschlichen Produktivität ab. Die Zusammenstellung der einzelnen Teile und museale Installation ruft Assoziationen von archäologischen Ausgrabungsstätten, prähistorischen Architekturen oder längst verdorrten Landschaften auf. Und doch ist die Arbeit ganz in der Gegenwart verwurzelt und versammelt und gruppiert die indexikalischen Spuren der Präsenz, des Arbeitsethos, der Leidenschaft und der spatialen Virtuosität zweier nichtmenschlicher Bildhauer_innen und ihrer menschlichen Kolleg_innen. In der finalen Komposition lässt sich nicht mehr unterscheiden, welche kreative Entscheidung für die auratische Gesamtwirkung ausschlaggebend ist. Die Arbeit funktioniert als Kunstwerk nur im Zusammenspiel der unterschiedlichen menschlichen und nichtmenschlichen Vermögen.

Natürlich könnte man die entstandenen Objekte auch als Belege für die Langweile lesen, unter der Vögel in Gefangenschaft leiden müssen; als fehlgeleitete Ersatzbefriedigung, wenn kein Nestbau in freier Natur möglich ist. Aber gerade weil es tatsächlich ethisch höchst problematisch ist, Vögel in Gefangenschaft zu halten, sollte der Entwurf einer (im Rahmen des Möglichen) gleichberechtigten Multispezies-Gemeinschaft, wie ihn Hörner/Antlfinger praktizieren, als bestmögliche Alternative wertgeschätzt werden. Auch wenn Hörner/Antlfinger sicher zustimmen würden, dass die afrikanische Wildnis das einzig wirklich artgerechte Habitat für Graupapageien ist, ist eine Rückkehr für die Vögel nicht möglich. Ebenso wie die menschlichen Künstler_innen haben die Vögel ihre spezifische Biographie, die sie definiert, aber auch begrenzt. Karl etwa ist ein Wildfang aus dem Kongo, wo er vermutlich Anfang der 1970er Jahre geboren wurde. Nachdem er nach Europa verkauft worden war, lebte er zunächst mit einem oder mehreren Besitzer_innen, bevor er im besten Alter von etwa 50 Jahren in ein Tierheim kam. Von dort nahmen ihn die Künstler_innen zu sich und bieten ihm nun die Möglichkeit, ein Alterswerk zu schaffen, das seinen Interessen und Begabungen gerecht wird. Damit kann das Unrecht, das ihm in seiner Jugend widerfahren ist, nicht ungeschehen gemacht werden. Doch gemeinsam mit seiner Partnerin Clara arrangiert er sich in seiner nun schon lange nicht mehr neuen Heimat und widmet sich den dort anstehenden Aufgaben. Beide Vögel haben dabei durchaus unterschiedliche Präferenzen und Techniken, arbeiten aber zuweilen zusammen an demselben Werkstück – das gleiche gilt im Übrigen für Ute Hörner und Mathias Antlfinger.

Der Name des Kollektivs CMUK ist im Übrigen schlicht ein Akronym aus den Vornamen der beteiligten Künstler_innen: Clara, Mathias, Ute und Karl. Der Werkkomplex CMUK legt also schon im Titel offen, dass es hier um die Zusammenarbeit zweier Künstlerpaare geht: eines menschlichen mit einem nichtmenschlichen. CMUK ist nicht ganz leicht auszusprechen und klingt bei dem Versuch beinahe wie ein Vogellaut. Für deutsche Ohren bedeutet CMUK zunächst nichts, hat aber zufälligerweise auf slowakisch semantischen Gehalt. Beinahe lautmalerisch bezeichnet in dieser Sprache das Wort »cmuk« nämlich einen Schmatzer bzw. ein Küsschen. Dadurch – so könnte man assoziieren – wird sowohl auf den Schnabel (die »Hand« der avianen Künstler_innen) verwiesen als auch auf die freundschaftliche Beziehung der beiden Paare untereinander und miteinander.

Bevormundend ist die gemeinsame Produktion nur an einer Stelle: Die menschlichen Künstler_innen treffen die Entscheidung, wann eine Arbeit fertig ist, d.h. wann sie dem Ausstellungsbetrieb übergeben werden soll. Die Vögel, insbesondere Clara, können sich zuweilen nur schwer trennen und würden vermutlich bis zur völligen Zerstörung der jeweiligen Objekte weiterarbeiten. Sie haben kein Interesse am Ergebnis oder am Kunstmarkt, sondern vor allem Freude am Tun – ein Luxus, den sich menschliche Künstler_innen in dieser Ausschließlichkeit kaum leisten können.

Weekly – Destruktion von Welterklärungsmodellen

Für weekly, einer weiteren Arbeit innerhalb der Interspezies-Kollaboration, überlassen Hörner/Antlfinger Clara und Karl das ZEIT-Magazin zur Überarbeitung. Durch die Intervention der Vögel entstehen Biss- und Kratzspuren, Risse und Löcher in den Seiten, die unerwartete Durch- und Einblicke in das zerfetzte Heft erlauben und überraschende neue Bezüge zwischen Texten und Bildern auf den unterschiedlichen Seiten eröffnen. Motivisch verwenden Clara und Karl das, was sie als Material erhalten. Die Künstlervögel transformieren reale oder imaginäre Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben mit ihren Schnäbeln genauso wie die Ente Donald Duck, den Paradiesvogel Iggy Pop oder die quietschbunte aktuelle Mode, die ihre Träger_innen zu menschlichen Papageien macht. Fotos von Blütenpracht werden von Papierfetzen durchdrungen und überwuchert, als würde neue Vegetation hineinwachsen. Meist wird das aufgeschlagene Magazin auf weißem Untergrund präsentiert, zuweilen umgeben von den Papierschnitzeln, die während des Produktionsprozesses abgefallen sind wie Sägespäne von einem Werkstück. Die Arbeit der Schnäbel und Krallen wird so herausgestellt und als Spur der avianen Künstler_innen erhalten.

In ihrer Sucht nach Zusammenhängen und Semantik tun sich für die menschliche Betrachter_in immer wieder überraschende inhaltliche oder kompositorische Relationen auf: So finden sich in der Rezeption der Werke vielfältige Bezüge, die weder den Vögeln bewusst noch von den Künstler_innen gesteuert gewesen sein können, die aber durch die Auswahl und Präsentationsform ins Auge springen. So gibt es direkte motivische Übereinstimmung z.B. eines Piktogramms von zwei Burka tragenden Frauen zu 
einer Modefotografie mit zwei langhaarigen blonden Mädchen. Die Mädchen genießen die Sonne mit geschlossenen Augen, während bei den Burkaträgerinnen die Augenschlitze zwar frei, aber leer sind. Zuweilen scheinen sich quasi autopoietisch witzig-ironische Wechselbeziehungen zu ergeben. Eine Überschrift wie »Schöne Fummelei« lädt zur Überlegung ein, ob das Benagen der Blätter als eine Art Schnabelfummelei verstanden werden kann. Im Text geht es dann um den Zwang, Röcke glatt zu streichen und Fusseln von Bekleidung zu entfernen – ordnungsschaffende Rituale, die in einem Papageienhaushalt eine Sisyphusarbeit bedeuten. Und die bekannte Serie »Ich habe einen Traum« ist der berühmten Primatologin Jane Goodall gewidmet, aus deren Kopf nun dank der Intervention von Clara und Karl abstrakt buntes Papier sprießt und so den Goodall’schen Traum von einer speziesgerechten Welt auf ganz besondere Art und Weise visualisiert.

Vieles wird erst durch die Auswahl und Neukombination bzw. fotografische Fixierung der Blätter des humanen Parts der Kollaboration augenfällig. Hörner/Antlfinger deuten die artspezifischen Enthüllungen von Clara und Karl mit genuin menschlichen Mitteln. Hörner/Antlfinger wissen dabei nicht nur um die kunsthistorischen Referenzen zur Décollage, sondern auch um die Symbolkraft der ZEIT. Die Lektüre der liberalen überregionalen Wochenzeitung ist meinungsbildend für eine kulturell und politisch interessierte Oberschicht und eignet sich als soziales Distinktionsmerkmal. Die wöchentliche farbige Zeitungsbeilage hat eine ganz eigene Ästhetik und wird von Eingeweihten sofort erkannt. Wer nach Bezügen sucht, wird fündig. Jedenfalls lassen die avianen Engriffe Durchsichten von redaktionellen Passagen, wie etwa der tagespolitischen Berichterstattung auf Modestrecken, Lifestylebeiträge oder Werbung, zu und kommentieren aus unverbrauchter Vogelperspektive »die Welt, in der wir leben«.

DIE WELT IN DER WIR LEBEN

Die Welt in der wir leben ist dann auch der Titel einer weiteren Arbeit von CMUK. Hierfür haben sich Clara und Karl eines der bekanntesten Bücher des letzten Jahrhunderts angenommen. Das 1957 von Lincoln Barnett und der Redaktion LIFE produzierte monumentale Buch versteht sich als eine Naturgeschichte von der Prähistorie bis in die Gegenwart. Auch wenn mit wissenschaftlich untermauerter Autorität behauptet wird, das einzig gültige Welterklärungsmodell zu liefern, ist die Publikation doch zwangsläufig zeitgebunden und hat längst Patina angesetzt. Die Aktualisierung durch CMUK öffnet auch hier die Augen für ansonsten übersehene Bedeutungsschichten.

Ursprünglich als 13-teilige Serie im amerikanischen LIFE Magazine konzipiert und von 1952 bis 1954 veröffentlicht, wurde es als opulent ausgestatteter Bildband in den folgenden Jahren in hoher Auflage weltweit verbreitet. Der Text von Lincoln Barnett wurde bald zum allgemein anerkannten Herrschaftswissen vom Wandel der Welt in den letzten 5 Milliarden Jahren. Die Illustrationen von Rudolph Zallinger und Chesley Bonestell haben sich bis heute ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation gegraben. Die Welt in der wir leben erhebt Anspruch darauf, vollständig und objektiv Fakten zu liefern. Tatsächlich stützen sich die Autoren des Buches auf die neuesten Erkenntnisse der Astronomie, Geologie und Biologie. Heute sind jedoch nicht nur viele der präsentierten Fakten überholt, auch die religiösen Untertöne und der oft nationalistische Duktus des Textes wären kaum noch akzeptabel.

Möglicherweise werden sich zukünftige Generationen in ähnlicher Weise über den Speziesismus in den Publikationen des frühen 21. Jahrhunderts wundern. Jedenfalls ist das Buch heute vor allem als Zeitdokument interessant und zeichnet das Bild einer Epoche, in der man sich nach einer allgemeinverständlichen und einheitlichen Exegese der Welt sehnte.

Jeder historische und zeitgenössische Käufer und Leser von Die Welt in der wir Leben weiß automatisch, wer mit dem »Wir« im Titel gemeint ist und fühlt sich und seine Mitmenschen adressiert. »Wir« sind Menschen (zumindest diejenigen, für die das Buch gemacht wurde und die es lesen können) und nur Menschen. »Wir« ist die Norm, an der sich all diejenigen messen lassen müssen, die nicht »wir« sind. Der Titel beinhaltet so eine beiläufige und kaum merkbare Geste der Abgrenzung. Damit wiederholt und affirmiert das Buch die Arbeit der anthropologischen Maschine, die den Menschen immer wieder aufs Neue herstellt, indem er ihn von den anderen Tieren scheidet. Wenn tatsächlich die bewohnte Welt gemeint wäre, müssten all die anderen Lebewesen einbezogen sein, die hier ihre Heimat haben.

Was das Buch versäumt, tun Hörner/Antlfinger. Sie fassen »die Welt, in der wir leben« nicht einfach als Menschenwelt auf, sondern denken ihre avianen Mitbewohner_innen mit. Nachdem sie selbst das Buch auf Menschenart rezipiert haben, überlassen sie es Clara und Karl, das antiquierte Geschichtsbild auf Papageien-Art zu transformieren. Die beiden Vögel hinterlassen arttypische, aber auch je individuelle Spuren auf diesem durchaus speziesistischen Kulturerzeugnis und kommentieren mit ihren Schnäbeln unterschiedslos Bild- und Textseiten. Für menschliche Betrachter_innen funktioniert das besonders gut in der Gegenüberstellung von Darstellungen des Fressen-und-gefressen-Werdens mit der Destruktionskraft der Schnäbel.

Clara und Karl arbeiten hier bevorzugt von den Rändern aus und nagen sich unerbittlich nach innen vor. Illustrationen von Naturgewalten, wie einem Meteoriteneinschlag, finden im wildem Geknabber der Vögel ihren Meister, und einstmals unumstößliche Lehrmeinungen werden unkenntlich gemacht oder ganz ausradiert. Das Papier wird zernagt und zerstört, aber auch auf überraschende Art und Weise neugestaltet.

In den 1950er Jahren warb Walt Disney mit folgenden Worten für das Buch: »To own The World We Live In in book form is a not-to-be-missed opportunity for any family – old or young, it’s a wonderful and exciting adventure in learning.«5 Hörner/Antlfinger haben Disney wörtlich genommen und nutzen das Buch als Inspiration für ihre eigene Multispezies-Familie. Was daraus gelernt werden kann, ist vielleicht, dass Geschichte und Wissenschaft sich stetig verändern und dass Familien heute anders aussehen als vor einem halben Jahrhundert.

Unknown Parrot with Princess

Hörner/Antlfinger arbeiten nicht immer mit Clara und Karl zusammen, sondern schaffen auch ohne deren Kollaboration künstlerische Werke – die sich dann aber zuweilen auf Clara und Karls Artgenossen beziehen: Unknown Parrot with Princess besteht aus einer Doppelprojektion von etwa 120 Gemälden mit Papageien aus der Kunstgeschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. Zumeist handelt es sich um Doppelporträts einer Frau mit einem Vogel, zuweilen sind Papageien auch paarweise oder in Gruppen abgebildet oder eine Damengruppe beschäftigt sich mit einem einzelnen Vogel. Zunächst hat man den Eindruck, als illustriere die Diashow das Vorkommen von Papageien in der Kunstgeschichte und deren symbolische Bedeutung. Es lässt sich auch einiges über die Entwicklung des Papageis zum Begleiter der schönen Damen lernen.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verstärkte sich der Handel mit exotischen Vögeln, was auch die private Vogelhaltung beflügelte. Vögel als Haustiere, zu denen von Anfang an Papageien zählten, wurden im 18. Jahrhundert als »birds for pleasure« bezeichnet oder auch als »Schoßtiere«.6 Damit hatten sie einen ähnlichen Status wie die Schoßhunde der feinen Damen, waren aber, anders als Hunde, immer durch ihren Käfig als Haustiere definiert. Julia Breittruck argumentiert, dass »companion birds« tatsächlich erst durch ihre Käfige als solche konstruiert werden. Der Vogel als Haustier existierte demnach erst, sobald ihm ein bestimmter Platz zugewiesen wurde.7

So sind Vögel in Gemälden traditionell der häuslichen, sprich weiblichen Sphäre zugeordnet. Oft wird die tradierte Gleichsetzung der unterdrückten Frau mit dem sprichwörtlichen »Vogel im goldenen Käfig« gespiegelt: Domestizierte Frauen und domestizierte Papageien unterlagen beide paternalistischer Kontrolle, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Farbenprächtige Exoten dienten durchaus auch als soziales Distinktionsmerkmal. Sie sind ebenso wie eine schöne Frau häusliche Zierde und Symbol für Reichtum und Macht. Ein weiterer Themenkomplex der Bilderfolge zeigt Papageien in Gesellschaft mit Musikerinnen oder Sängerinnen. Diese Motivik dürfte auf die übliche Praxis, Vögeln menschliche Musik beizubringen, anspielen. Dass Papageien gezwungen wurden, menschlichen Instrumenten und menschlichem Gesang zu lauschen, spricht den Vögeln nur vordergründig Kunstverständnis zu. Denn Vögeln, vor allem Papageien, traute man kein ästhetisches Empfinden oder ästhetische Fähigkeiten zu, sondern nur die niedere Gabe der Mimesis.

Neben den Darstellungen aus dem häuslichen Bereich werden auf den Gemälden Papageien in religiösen, exotistischen und orientalistischen Kontexten gezeigt, die Auskunft über die Frömmigkeit, aber auch den Rassismus und Sexismus ihrer Entstehungszeit geben. Man sieht auf den Bildern des Weiteren alle möglichen historischen und modernen Formen mit Papageien umzugehen und sie zu halten. Hier lässt sich ablesen, was einmal »normal« war und es heute nicht mehr ist, z.B. die tierschutzrelevante Einzelhaltung von Papageien und wenig zeitgemäße Kleinstkäfige. Keines der Gemälde scheint jedoch die Gefangenschaft der Vögel als solche zu hinterfragen. Das Bewusstsein für die Problematik von Käfighaltung von Vögeln wird als Phänomen der Gegenwart greifbar. Bis in die Moderne hinein scheint es den Künstler_innen nicht um die Papageien an sich gegangen zu sein, sondern vor allem um die Ausstellung menschlicher Befindlichkeit und menschlichen Virtuosentums.

Selbst in einem der jüngsten Bilder, einem Selbstporträt 
Frieda Kahlos mit mehreren Papageien, sind die Vögel als eine Art Alter Ego der Künstlerin aufzufassen. Kahlo hat sich einerseits selbst als Paradiesvogel inszeniert und sich andererseits zeitlebens u.a. als Gefangene der gesellschaftlichen Verhältnisse und des eigenen weiblichen Körpers gefühlt. Egal, ob die gemalten Papageien einfach als prächtiges, exotisches oder erotisches Accessoire, als Spiegelbild oder Projektionsfläche dargestellt sind, sie sind stets Staffage der Bilder, nicht die Hauptpersonen. Das unterstreichen neben der Art und Weise der Darstellung auch die originalen Titel der Werke: Hier ist meist die Rede von einer (zuweilen namentlich genannten) Frau »mit Papagei«. Die Vögel haben keine Individu­alität, sie bleiben abstrakte Vertreter_innen ihrer Spezies und vervollständigen als lebendiges Attribut das Porträt einer menschlichen Person.

Hörner/Antlfinger kehren nun durch einen gleichermaßen simplen wie subtilen Eingriff die Gewichtung um und lenken die Aufmerksamkeit auf die nichtmenschliche Personage: Anstelle eines Titels wie Unknown Princess with Parrot setzen sie nun ­Un­known Parrot with Princess (so auch der Titel der Installation) oder anstelle von Quappi mit Papagei, Papagei mit Quappi. Dann lassen sie zwei Diashows der Gemälde nebeneinander ablaufen: einmal mit dem originalen Titel und einmal mit dem künstlerisch aktualisierten Titel. Manch eine Besucher_in mag den kleinen Unterschied nicht einmal bemerken – und doch verdeutlicht die Arbeit eindrücklich die Bedeutung von Sprache bei der Zementierung von Hierarchien.8

So wie mittlerweile eine gendersensible Sprache alle Geschlechter mitdenkt (und nicht nur männliche Menschen), versucht man in den Animal Studies seit einiger Zeit ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Benennungen und Zuschreibungen (etwa der Generalsingular »Tier« für sämtliche nichtmenschliche Tiere) Herrschaftsinstrumente sind, die gleichermaßen ein- und ausschließen. Eine vergleichbare Sensibilisierung für die Bildwürdigkeit von Vögeln und ihre Gleichwertigkeit als Motiv bewirkt die Umbenennung der Bildtitel durch Hörner/Antlfinger. Sie hinterfragen damit hegemoniale Vorgaben davon, wer porträtiert werden darf und wer nicht, bzw. wer von der Nachwelt erinnert werden soll und wer nicht.

Schwarmästhetik als Form distributiver Agency

Natürlich bleibt wie in fast jeder Tier-Mensch-Beziehung auch in der CMUK-Kollaboration ein Machtgefälle zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Partner_innen der Zusammenarbeit erhalten. Clara und Karl haben nicht darum gebeten, in einem Atelier mit Menschen zusammenzuleben, sie müssen sich mit einer Situation arrangieren, der sie ausgeliefert sind, und im Rahmen der bildhauerischen Arbeit würden sie einige ihrer Arbeitsstücke gerne länger behalten, als sie das dürfen. Doch das bedeutet nicht, dass sie innerhalb dieser Multispezies-Konstellation keine Handlungsmacht haben.

Die Persönlichkeit und Individualität beider Vögel wird von Hörner/Antlfinger erkannt und gewahrt. Clara und Karl werden weder anthropomorphisiert oder lächerlich gemacht noch trainiert, dressiert oder manipuliert. Vielmehr werden sie als gleichberechtigte Partner_innen in kreativen Prozesse ernst genommen und ihr gestalterischer Beitrag wird mit freundlicher Anteilnahme und achtungsvollem Respekt angenommen. Man könnte die unter dem Label CMUK firmierenden Arbeiten als satirischen Kommentar zum Kunstmarkt missverstehen. Sicherlich attackieren Hörner/Antlfinger herkömmliche Vorstellungen von Kunst und Autorschaft. So weisen sie mit ihren Arbeiten die Vorstellung zurück, dass Kunst Inspiration und menschlichen (männlichen) Genius voraussetze und als Selbstausdruck eines menschlichen Künstlers gelesen werden muss. Auch stellen sie das überkommene Konzept eines autonomen, sein Werk kontrollierenden Autors als geistigem Urheber und intentionalem Zentrum von Kunst radikal in Frage. Aber durch eine solche Lesart beginge man den Fehler, die Arbeit sehr eingeschränkt rein aus der Perspektive menschlicher Kunstkritik zu lesen. Und damit würde man weder Hörner/Antlfingers Intentionen noch Claras und Karls Beitrag zur Gemeinschaftsarbeit gerecht.

Susan McHugh hat in einem Aufsatz über die ästhetische Agency des Künstlers William Wegman und des Hundes Man Ray den Begriff »pack aesthetics« geprägt.9 Sie ist der Auffassung, dass Wegmans inszenierte Videos seines Weimaraners nur als Gemeinschaftsproduktionen von Wegman und Man Ray zu denken sind. In einer anderen personalen Konstellation wären sie in dieser Form nicht möglich. Der Rüde Man Ray hat, so impliziert McHugh, den gleichen Anteil am fertigen Werk wie der menschliche Künstler. In analoger Weise kann man bei den Kollaborationen von Hörner/Antlfinger mit Clara und Karl, wenn auch nicht von einer Rudelästhetik, so doch von einer Schwarmästhetik sprechen.

So wie Hörner/Antlfinger durch simple Umbenennung klassischer Gemälde die abgebildeten Papageien ganz neu situieren und für ihren unhintergehbaren Eigenwert eintreten, dezentriert auch das Projekt CMUK den Menschen in seiner Rolle im Schaffensprozess. So wie Clara und Karl Instrumente des Werks von Hörner/ Antlfinger sind, sind auch Hörner/Antlfinger Instrumente für die Produktion der Vögel.

Clara und Karl bearbeiten mit verblüffender Geschicklichkeit – man darf sagen Kunstfertigkeit – Holz in unterschiedlichen Erscheinungsformen, sei es als Kork, als Zeitungspapier oder Buchseite. Es wäre mehr als fragwürdig, die Vögel durch einen vereinnahmenden Einbezug in kreative Prozesse innerhalb eines anthropozentrischen Konzepts auszubeuten. Hörner/Antlfinger aber gehen respektvoll und kollegial mit Clara und Karl um, ohne je in einen naiven Anthropomorphismus zu verfallen. Sie machen die Papageien nicht zu bloßen Sprachrohren ihrer eigenen künstlerischen Vorstellungen. So versuchen sie nicht, den Papageien menschliche Holzbearbeitungstechniken oder Werkzeuge nahezubringen und greifen nicht in den Produktionsprozess ein. Wenn einer der Vögel kein Interesse an einem Objekt hat oder das Interesse daran verliert, nehmen sie das hin. Sie formulieren keine eindeutigen Interpretationen der entstehenden Objekte, sondern arrangieren sie so, dass sie für sich selbst sprechen.

Alle vier Kollaborateur_innen nutzen gemeinsam zu gleichen Teilen einen Atelierplatz: Hörner/Antflinger haben einen diagonal in der Mitte geteilten Arbeitstisch konstruiert, der sowohl Raum für humanes wie für avianes Produzieren lässt und an dem alle vier Individuen ständigen Kontakt mit- und untereinander halten können. Die beiden Paare führen in dieser so vorbereiteten Umgebung nicht einfach parallele, sondern miteinander verwobene Leben. Ihre Handlungsmacht ist verteilt, jedes Paar hat seine Aufgaben und Tätigkeitsbereiche, nur gemeinsam gibt es CMUK als Werk.

Für dieses gemeinsame Projekt von Vögeln und Menschen kann Jane Bennetts Konzept der distributiven Agency nutzbar gemacht werden. Bennett führt damit eine Form der Handlungs- und Wirkmacht ein, die nicht unbedingt ein Subjekt als Wurzel eines Effekts voraussetzt. So unterscheidet sie die distributive Agency von den traditionellen Formen der Handlungsmacht, die eines vorausschauenden Plans oder einer Intention seitens eines (moralisch verantwortlichen) Urhebers bedürfen. Um das von ihr eingeführte Konzept zu verdeutlichen, nutzt sie die Metapher bzw. die Materialität des Schwarms: »There are … always a swarm of vitalities at play. The task becomes to identify the contours of the swarm, and the kind of relations that obtain between its bits … this understanding of agency does not deny the existence of intentionality, but it does see it as less definitive of outcomes. It loosens the connections between efficacy and the moral subject, bringing efficacy closer to the idea of the power to make a difference that calls for a response«.10

Bei der distributiven Agency handelt es sich also um Schwärme von Vitalität, die in einer Beziehung zueinander stehen, welche im Prozess zu charakterisieren wäre. Genau dies tut CMUK. Interessant ist auch, dass für Bennett die Wirkungskraft oder auch die Wirkung als »Produkt« der distributiven Agency lediglich eine wie auch immer geartete Differenz sein kann, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie eine Resonanz erforderlich macht. Und tatsächlich schaffen die Handlungen der CMUK-Kollaborateur_innen auf vielen verschiedenen Ebenen Unterschiede. Sie verändern Dinge und fordern die jeweils anderen auf, zu den Veränderungen artspezifisch Stellung zu nehmen.

Vom formalen und kognitiven Reiz sowie von möglichen kunsthistorischen Referenzpunkten der fertigen Produkte, etwa zur Arte Povera oder zur Décollage, wissen die Vögel sicherlich nichts. Auch die Theorien des New Materialism zur distributiven Agency sind ihnen nicht zugänglich. Dennoch profitieren auch die Vögel von ihrem Involviertsein in das relationale Netzwerk ihres künstlerischen Multispezies-Haushalts. Das Überlassen von Büchern, Zeitungen und Korkstücken dürfte ein von den Vögeln geschätztes Ritual sein, dem sie in Vorfreude entgegensehen und an dem sie gerne teilhaben. Das Benagen, Knabbern und Scharren ist für sie eine lustvolle Tätigkeit, die neben biologischen Funktionen auch spielerische und zweckfreie Komponenten hat. Die Papageien können sich autonom entscheiden, ob sie das angebotene Material übernehmen und wie sie es nutzen wollen. Hörner/ Antlfinger appropriieren zwar die Gestaltungs- bzw. Zerstörungskraft der Papageien und ergänzen sie durch eigene Eingriffe, definieren aber die eigene Weiterbearbeitung nicht als die überlegene. Sie schaffen die Rahmenbedingungen, stellen das Material und entdecken im avianen Schaffen eine ästhetische oder zumindest ästhetisch nutzbare Qualität, die andere gar nicht erst bemerken würden. Der Unterschied, den das Papageienpaar macht, wird von einem weiteren Unterschied komplettiert, den das menschliche Künstlerpaar vornimmt. Und das Ergebnis bleibt in Bewegung und wird erweitert durch die Rezeption derjenigen, die auf das Gemeinschaftswerk aufmerksam werden und nun vielleicht anders über Kunst oder Künstler_innen oder über Papageien denken.

Ob Clara und Karl selbst als Rezipient_innen ihrer Arbeit bezeichnet werden können, ist ebenso fraglich wie, ob man sie als Künstler_innen bezeichnen kann. Menschen können nicht wissen, ob die Graupapageien die sinnlich erlebbaren Qualitäten der fertigen Papierreliefs oder Korkobjekte interessieren, seien sie visueller, haptischer oder olfaktorischer Art. Menschliche Betrachter_innen können auch nicht wissen, wie die Papageien ihr bildhauerisches Tun erleben und wie sie ihre Produkte bewerten. Schon das Sinnessensorium von Papageien und Menschen ist völlig verschieden. Zwar sind Papageien wie Menschen visuelle Tiere, dem Menschen aber in ihren visuellen Fähigkeiten klar überlegen. Sie haben ein reicheres Farbensehen als Menschen und durch die seitlich am Kopf sitzenden Augen ein weiteres Gesichtsfeld.

Durch die leicht vorstehenden Augen ist auch ihr Rundumsehen besser. Außerdem können sie mit jedem Auge unabhängig sehen (aber auch kombiniert mit beiden) und sowohl im Fern- als auch im Nahbereich aktiv fokussieren. Im Übrigen ist auch der Geruchssinn von Papageien sehr gut entwickelt, auch wenn man bis vor einigen Jahren noch davon ausging, dass Vögel nicht riechen können. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass Clara und Karl ihr gestalterisches Tun in Dimensionen erleben, die menschliche Betrachter_innen, Hörner/Antflinger eingeschlossen, nicht einmal erahnen können. Anzunehmen, dass dies völlig ausgeschlossen ist, wäre jedenfalls purer Anthropozentrismus.

Kunst wird gemeinhin als ein Merkmal anthropologischer 
Differenz angesehen. Damit stand Kunst lange in einer Reihe mit anderen menschlichen Gattungsmerkmalen, wie etwa dem aufrechten Gang, Werkzeuggebrauch, Sprache, Bewusstsein, Kultur oder Grammatik. Diese vorgeblich rein menschlichen Merkmale sind in den letzten Jahren nach und nach zumindest bei manchen anderen Tieren beobachtet worden. So verwundert es nicht, dass seit einiger Zeit Vertreter_innen der Animal Studies, der evolutionären Ästhetik und der Ethologie auch die Kunst als genuin menschliches Phänomen in Frage stellen.

Tatsächlich gibt es eine aus der Antike stammende Tradition, Vogelnester oder Biberbauten als Architektur und als Belege für die Existenz eines tierlichen »Kunsttriebs« anzusehen.11 Der Kunsthistoriker Karl Woermann veröffentlichte etwa in der ersten Ausgabe seines dreibändigen Weltkunst-Kompendiums Die Geschichte der Kunst aller Völker und Zeiten von 1900 Bildtafeln zur »Kunst der Tiere«. Und ganz aktuell erklärt die evolutionäre Ästhetik Kunst mit Biologie und sucht die Ursprünge menschlichen Kunstschaffens im Tierreich. So wird angenommen, dass menschliche Musik aus Vogelgesang entstanden ist, menschliche Architektur aus Tierbauten oder menschlicher Tanz aus der Balz.

Selbst wenn man nichts von der Idee hält, Tieren Kunstfähigkeit zuzusprechen, sollte man sich doch nicht verbieten, Tiergestaltungen ästhetisch wahrzunehmen. Auch wenn es, nach allem was wir wissen können, nicht Claras und Karls Intention war, dass ihre Objekte rezipiert werden, sollte man dies tun. Dem menschlichen Künstlerpaar ist es zu verdanken, dass die kreativen Gestaltungen von Clara und Karl eine Öffentlichkeit erhalten und so aufbereitet präsentiert werden, dass die sehr spezifische aviane Handlungsmacht der Graupapageien sichtbar wird.

Die Rahmenbedingungen des auf menschlicher Verabredung beruhenden Ausstellungsbetriebs und Kunstmarkts haben für Clara und Karl natürlich keine Relevanz. Und auch Kunst als bloßer Begriff wird für sie bedeutungslos sein. Doch die ästhetische Begegnung und der lustvoll-kreative Austausch mit Hörner/Antflinger haben sicherlich einen Wert für sie. Das gemeinsame Schaffen von Hörner/Antlfinger und Clara und Karl weist zumindest ein wichtiges Merkmal von Kunst auf: Es ist eine zutiefst soziale Aktivität.

Der Anthropologe Alfred Gell definiert Kunst als Mobilisierung ästhetischer Prinzipien innerhalb sozialer Interaktion.12 Kunst ist sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption eine soziale Tätigkeit und darüber hinaus beruht der Kunstbegriff auf Verabredungen, die historisch wandelbar sind.13 Da diese Verabredungen von Menschen getroffen und festgeschrieben wurden und werden, haben (bisher) Vögel kein Mitspracherecht. Das haben sie mit anderen vormals ausgeschlossenen Gruppen aus der Sphäre der Kunst gemein, etwa den sogenannten Naturvölkern, Kindern oder psychisch Kranken. Ohne Vögel und Menschen vergleichen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass das, was als Kunst ­verstanden wird, in der Regel nicht etwa von den Objekten selbst abgeleitet wird, sondern von dem Diskurs, in den die Objekte eingebettet sind. Damit ist die Deklaration von Kunst und Nichtkunst immer auch an die Ausübung von Deutungsmacht gekoppelt.

Sobald die Objekte dem Ausstellungsbetrieb übergeben sind und in Katalogen veröffentlich werden, kann jedenfalls die in den CMUK-Werken manifestierte aviane Agency nicht länger geleugnet werden. Ob man Clara und Karls Gestaltungen als Kunst bezeichnen kann, ist dann nicht mehr wichtig. Als Produkte der distributiven Agency von CMUK sind sie Kunst. Sie sind Belege dafür, dass menschliche und nichtmenschliche Partner_innen gemeinsam eine originäre Schwarmästhetik entwickeln können, die in keiner anderen Konstellation möglich wäre.

Jessica Ullrich

 

Zuerst erschienen in DIE WELT IN DER WIR LEBEN, Hörner/Antlfinger und das Interspezies Kollektiv CMUK, Verlag der Kunsthochschule für Medien Köln, 2016

Jessica Ullrich (Prof. Dr.) ist Kunstwissenschaftlerin und unterrichtet an der Kunstakademie Münster und an der Universität der Künste Berlin. Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Rolle von nichtmenschlichen Tieren in der Gegenwartskunst. Sie ist Herausgeberin von Tierstudien, dem deutschsprachigen wissenschaftlichen Journal für Animal Studies.

1 Vgl. Zipporah Weisberg: »The Broken Promises of Monsters. Haraway, Animals, and the Humanist Legacy«, in: Journal for Critical Animal Studies, Volume VII, Issue II, 2009, S. 22–62
2 Vgl. Vinciane Despret: »Quand le loup habitera avec l’agneau.« Paris: Les Empêcheurs de penser en rond, 2002.
3 Ebd.
4 Neben dem Schnabel nutzen Graupapageien im Übrigen für viele Tätigkeiten auch Werkzeuge, beispielsweise zum Graben, zur Wasseraufnahme oder zum Gefiederputzen. Vgl. Daniel Janzen/Caroline M. Pond: »Tool-using by the African Grey Parrot (Psittacus erithacus)«, in: Biotropica, Band 8, 1976, S. 70.
5 Walt Disney: »An Extraordinary Book«, in: LIFE, Vol. 38, No. 19, Mai 1955, S. 159.
6 Heinrich August Ottokar Reichard: »Die Moden der Schoosthiere«, in: Journal des Luxus und der Moden (4), 1789, S. 277–302. http://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00115128/JLM_1789_H007_0003_b.tif.
7 Vgl. Julia Breittruck: »Pet Birds. Cages and Practices of Domestication in Eighteenth-Century Paris«, in: InterDisciplines 1 (2012), S. 6–24, hier S. 16.
8 Siehe Abb. Lavinia Fontana (1552–1614) auf gegenüberliegender Seite: Portrait of Five Women with a Dog and a Parrot (Orig. Ritratto di cinque donne con cane e pappagallo).
9 Vgl. Susan McHugh: »Video Dog Star: William Wegman, Aesthetic Agency, and the Animal in Art«, in: Society and Animals 9.3 (2001): S. 229–251.
10 Jane Bennett: Vibrant Matter, Durham 2010, S. 32.
11 »Endlich sind noch die Vergnügungsnester zu erwähnen, große laubenartige Gewölbe mit bunten Federn, Knochen, Muscheln geschmückt, die nicht zum Brüten sondern nur der vergnüglichen Zusammenkunft der Vögel dienen.« In: Meyers Großes Konversationslexikon, Band 14, Leipzig 1908, S. 532–533. Vgl. u.a. James Rennie: Die Baukunst der Tiere, Stuttgart 1847.
12 Alfred Gell: Art and Agency: An Anthropological Theory, London 1998, S. 4.
13 »Art is a social construct and its production and consumption are thoroughly social in character.« Eduardo De La Fuente: »The ‘new sociology of art’: putting art back into social science approaches to the arts«, in: Cultural Sociology 1 (2007), S. 409–425, hier S. 423.

 

 

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