Als Kinder verbrachten wir Stunden damit die Raufasertapete-Tapete über unseren Betten anzustarren. Im Nebeneinander der in Wandfarbe festgebackenen Holzspäne entdeckten wir bedrohliche Gestalten, gemeine Fratzen und seltsame Tiere. Wenn wir uns müde geworden zur Seite drehten, sahen wir in unseren Steppdecken Berge, Täler und weite Ebenen. Wir waren Riesen.
Odin, der Göttervater der Germanen, Gott des Sturmes und des Krieges, Zerstörer, Zauberer und Verführer in einer Person, war der Sohn eines Riesen. Neun Nächte lang hing er kopfüber blutend an der Weltenesche. Dem Riesen Mimir musste er sein Auge verpfänden, um aus dessen Weisheitsbrunnen trinken zu dürfen. Von nun an vertraute er auf seine treuen Raben Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung), die für ihn sahen. Bei Morgengrauen sendete Odin sie aus, um über die ganze Welt zu fliegen und zum Frühstück waren sie zurück, um zu berichteten, was sie gesehen hatten.
“Je sais bien… mais quand même.” 2
Welche Bedeutung haben Mythen für uns heute? Man könnte auch fragen welche hatten sie früher oder haben die Griechen etwa wirklich an ihre Mythen geglaubt? Worin könnte der Reiz liegen etwas wider besseres Wissen zu glauben? Der Philosoph Robert Pfaller nennt in “die Illusionen der Anderen” 3 zwei Arten von Illusionen: solche, auf die man stolz ist, zu denen man sich bekennt: “Ich glaube an das Gute im Menschen”, oder “an das Programm der Partei X” und solche, die anderen gehören. Die Illusionen der anderen werden mit einem bestimmten Satz eingeleitet: “Ich weiß es ist blöd, aber … “, “Ich weiß es ist blöd, aber ich würde so gerne mal was mit Sex und Gewalt machen”. Es sind die Illusionen der Andern, Illusionen ohne Subjekt, die Lust machen. Auch besseres Wissen ändert nichts daran, vielmehr ermöglicht es erst den Glauben – weil es verhindert, dass die Akteure selbst sich als Träger der Illusion empfinden.
“Das bürgerliche Individuum(…) ist in der Theorie aufgeklärter Nominalist, in der Praxis spekulativer Mystiker.” 4
Geht es um den Mythos, so ist die Welt der Computerspiele ein Ort an dem sich die unterschiedlichsten Versatzstücke aus allen Kulturen und Epochen wieder finden. Ein Ort also an dem sich die Illusionen der anderen lustvoll ausleben lassen. Ein anderer Ort hierfür ist das Feld der Kunst. Aus der Kopplung Odins-Mythos und Verwendung von Computerspiele verwandter Technologie generiert sich fast zwangsläufig das Szenario einer grausamen Götterwelt, die den Betrachter mit gewalttätigen Bildern herausfordert – gäbe es da nicht die noch größere Lust, die Lust alles noch einmal herumzudrehen.
“I would rather be a cyborg than a goddess.” 5
Unser Odin ist ein Cyborg, ein einäugiger Mutant, ein hybrides Wesen – dessen “Extensions” zwei Vögel sind: Munin, der sich erinnert und Hugin, der konstruiert. Das Wilde und Unbändige wird man hier vergeblich suchen. Antipode einer von blutrünstigen Göttern beherrschten Welt ist der inzwischen selbst zum Mythos gewordene Physiker, Biologe und Anarchist Alex Comfort und seine Utopie einer “aufgeklärten” Gesellschaft.
“Es ist höchste Zeit, dass erwachsenen Lesern, Menschliches mit Vernunft geboten wird.” 6
Comfort war der Ansicht, dass ein Mensch, der erfüllte sexuelle Beziehungen haben würde, sich nicht unterdrücken lassen würde, weder von staatlicher oder religiöser noch von individueller Macht. Die Illustrationen aus seinem 1972 veröffentlichen Aufklärungsklassiker “The Joy of Sex”, Zeichnungen von bärtigen Männern und langhaarigen Frauen beim gemeinsamen Spiel, säumen nun auf großen Billboards die Straßen und Plätze von ’InfiniteLand’. Wann immer Odins Raben Hugin und Mugin auf Abwege geraten, erinnern die Tafeln sie daran, dass eine bessere Welt möglich ist.
Zitate / Fußnoten
Infinite Land
“O’er Mithgarth Hugin | and Munin both
Each day set forth to fly;
For Hugin I fear | lest he come not home,
But for Munin my care is more.”
(Grímnismál – The Ballad of Grimnir)
Odin, the one-eyed God-Father of the Germans, placed his trust in Hugin (”Thought”) and Munin (”Recollection”), the two ravens who served as his eyes. He would send them out at the crack of dawn in order to fly over the entire world. They would return by breakfast-time and report on what they had seen. In InfiniteLand the ravens’ world is a virtual 3-D realm generated in real time on a computer. The landscapes only come into being in the course of the birds’ aerial progress. At the end of each ”world” the next is already becoming visible. The terrain they are investigating is infinite, so to speak.
2003 Computer Installation
Navigable 3-D real-time animation
Seat cushions 180 x 180 x 45cm
Billboard 425 x 203 x 40 cm
Navigation interface 35 x 35 cm
All objects covered with white and grey kalmuck